Bundeswehr-Werbung „immer skrupelloser“: Wie die Armee mit TikTok und Pizzakartons Nachwuchs ködert

Mit Millionenetat, TikTok-Influencern und Schulbesuchen kämpft die Armee um Nachwuchs – angesichts der Rekrutierungskrise steht sogar die Wehrpflicht wieder im Raum. Kritiker schlagen Alarm.
Deutschland steckt mitten in der größten Aufrüstung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Laut Kanzler Friedrich Merz soll die Bundeswehr zur „stärksten Armee Europas“ werden, und Verteidigungsminister Boris Pistorius will das Land bis 2029 für einen Krieg mit Russland „kriegstüchtig“ machen. Doch ausgerechnet beim Personal hakt es.
Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland am Freitag berichtete, ist die Zahl der Kriegsdienstverweigerer weiter gestiegen. Beim zuständigen Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben gingen in der ersten Jahreshälfte demnach knapp 1400 Anträge ein. Im gesamten vergangenen Jahr gab es gut 2200 Kriegsdienstverweigerer; 2022 waren es noch rund 950.
Laut Pistorius benötigt die Bundeswehr im Ernstfall rund 460.000 Soldaten und Reservisten, um die Verteidigungsfähigkeit zu sichern. Derzeit stehen jedoch nur etwa 182.000 Aktive und 49.000 Reservisten bereit. Pistorius strebt nun mindestens 60.000 zusätzliche aktive Soldaten sowie insgesamt 200.000 Reservisten an.
Um der Personalkrise bei der Bundeswehr entgegenzuwirken, wirbt der Staat immer offensiver im öffentlichen Raum sowie in den sozialen Netzwerken für den Dienst an der Waffe. Im Jahr 2024 standen im Bundeshaushalt 58 Millionen Euro für die Nachwuchswerbung der Bundeswehr bereit – so viel wie noch nie. Zum Vergleich: Von 2019 bis 2023 beliefen sich die jährlichen Ausgaben auf konstant rund 35 Millionen Euro. Der Posten wurde also innerhalb eines Jahres um 65 Prozent erhöht. Der Etat für 2025 ist bisher nicht bekannt.
Wie andere Großorganisationen und Unternehmen sei auch das Verteidigungsministerium vom Fachkräftemangel und von der demografischen Entwicklung betroffen, erklärt das Verteidigungsministerium auf Anfrage der Berliner Zeitung. Ziel sei es, die Bundeswehr als „attraktive Arbeitgeberin“ zu präsentieren und so das Interesse junger Menschen zu wecken.
Man wolle den Personalbedarf decken und damit die „personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sicherstellen“. Dabei setze man auf einen crossmedialen Ansatz: „Wir sind mit zeitgemäßen und innovativen Formaten dort präsent, wo junge Menschen unterwegs sind: im öffentlichen Raum an Bahnhöfen, Bushaltestellen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, Fußgängerzonen oder Einkaufszentren – aber auch auf Social Media oder im Internet, etwa auf bundeswehrkarriere.de.“
Der größte Teil des Budgets für Nachwuchswerbung fließt in Formate im öffentlichen Raum. Im Jahr 2023 wurden rund 41 Prozent der gesamten Werbemittel für Plakate an Bushaltestellen, Pizzakartons mit Bundeswehr-Logo oder Straßenbahnen in Tarnoptik ausgegeben. Parallel dazu findet eine digitale Rekrutierung statt. Auf Instagram, TikTok oder YouTube wirbt die Bundeswehr mit Clips, in denen Soldaten aus ihrem Alltag berichten. 18 Prozent des Werbeetats flossen im Jahr 2023 in diese digitalen Kanäle.
Darüber hinaus sind Soldaten immer häufiger in Klassenzimmern präsent. Viele Schulen nutzen das Informationsangebot der Jugendoffiziere der Bundeswehr, um Lerninhalte zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland und der Nato zu vermitteln. Die Jugendoffiziere sollen dort „über Sicherheitspolitik aufklären“, wie es heißt.
Deutsche Friedensgesellschaft kritisiert WerbeoffensiveBei der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), der ältesten deutschen Friedensorganisation, stößt die Werbeoffensive der Bundeswehr auf scharfe Kritik. „Seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 wirbt die Bundeswehr immer intensiver – und auch skrupelloser – um Nachwuchs“, sagt Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der DFG-VK, der Berliner Zeitung. Seit 2015 folge eine Werbekampagne nach der anderen. „Trotz eines Dutzende Millionen Euro umfassenden Werbeetats konnte die Bundeswehr die Zahl der Soldatinnen und Soldaten seitdem nicht erhöhen – sie liegt bei rund 180.000“, weiß Schulze von Glaßer.
Er warnt, dass die Werbung daher nun noch weiter intensiviert werde und dass zunehmend Zwang in Form eines neuen Wehrdienstes angewendet werden würde, um genügend Soldaten für die von der Bundesregierung gewollte Aufrüstung zu haben. Dabei werbe die Armee vor allem dort, wo junge Menschen sind: in Schulen und in den sozialen Medien. Zudem nehme das Sportsponsoring der Bundeswehr extrem zu. „Eishockeyvereine, Fußball- und Football-Klubs sowie Autorennen werden von der Armee gesponsert“, kritisiert Schulze von Glaßer.
Ein Beispiel für die neue Rekrutierungsstrategie der Bundeswehr ist Hauptmann David Matei, der auf Instagram und TikTok mehr als 372.000 Follower hat. Anfang des Jahres erlangte er große Aufmerksamkeit durch seinen Auftritt in der ARD-Talkshow „hart aber fair“. Dort sagte er, Deutschland sei es „wert“, für es zu kämpfen. Für dieses „so klare Bekenntnis“ (Bild) erhielt er Beifall von der Springer-Presse.
Matei war zehn Jahre bei den Gebirgsjägern und arbeitet seit 2021 als Jugendoffizier im Raum Stuttgart. Sein Ziel beschreibt er wie folgt: Er wolle „dorthin, wo die Jugendlichen sind“ – also in Klassenzimmer und soziale Netzwerke. Den digitalen Raum wolle er „nicht extremen, ideologischen oder demokratiefeindlichen Gruppierungen überlassen“, erklärte er der Süddeutschen Zeitung Ende 2024. Es gehe darum, humorvoll und mit Spaß über sicherheitspolitische Zusammenhänge zu sprechen und Einblicke in die Bundeswehr zu geben.
In seinen Videos spricht er zum Beispiel mit einem General, der gerade unter der Motorhaube eines gepanzerten Fahrzeugs steckt und es repariert, oder er lässt sich von „Experten“ von Rüstungsunternehmen wie Airbus erklären, wie leistungsfähig deren Kampfjets sind. Auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz war Matei für seine Follower unterwegs.
Der Bundeswehr-Influencer spricht außerdem öfter mit ukrainischen Soldaten. In einem Video vom 22. März begegnet er in einem britischen Militärausbildungszentrum einem 25-jährigen Ukrainer, der vor wenigen Monaten noch im IT-Bereich gearbeitet hat. Der Ukrainer erzählt, dass er nur eine 50-tägige Ausbildung in Großbritannien absolviert, bevor er an die Front geschickt werden soll, und dass er eigentlich gar nicht hier sein möchte. Im Video lacht Matei mehrfach. Er wirkt locker und unterhaltsam. Dadurch entsteht der Eindruck, Krieg sei ein Abenteuer oder eine coole Kulisse und keine grausame Realität voller Leid und menschlicher Tragödien. Dass der junge Ukrainer möglicherweise schon bald dem Tod ins Auge blicken muss, wird im Video nicht thematisiert.
Eine derartige Präsenz von Soldaten im Netz ist ausdrücklich erwünscht. In den entsprechenden Richtlinien der Bundeswehr heißt es: „Tragen Sie dazu bei, das Bild des Arbeitgebers Bundeswehr weiter zu verbessern und dessen Einbindung in die Gesellschaft zu fördern.“
Offiziell betreibt Matei seinen Account jedoch privat. Auf Anfrage der Berliner Zeitung bestätigt das Verteidigungsministerium, dass keine direkten Zahlungen an ihn fließen. Die Behörde räumt jedoch ein, dass seine Inhalte dienstlich beraten werden.

Das Ministerium erklärt der Berliner Zeitung außerdem, dass für alle Bundeswehrangehörigen, also auch für Hauptmann Matei, Regeln gelten, wenn private Social-Media-Auftritte dienstliche Bezüge haben. Diese seien im Soldatengesetz aufgeführt und würden in den Social-Media-Guidelines der Bundeswehr konkretisiert. Das Zentrum Informationsarbeit der Bundeswehr stehe dazu in engem Austausch mit allen Jugendoffizieren. Ziel dieser Beratung sei es, die berufliche Funktion als Jugendoffizier klar von der privaten Tätigkeit als Content-Creator zu trennen. Es sei jedoch „nicht ausgeschlossen (...), dass dienstliche Eindrücke und Begegnungen auch in die private Content-Gestaltung einfließen können“.
Bundesregierung bringt Wehrpflicht ins SpielTrotz aller Kampagnen bleiben die Bewerberzahlen bislang niedrig. Verteidigungsminister Pistorius will den Wehrdienst deshalb reformieren und hat in dieser Woche einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, wie der Spiegel berichtet. Demnach soll eine verpflichtende Einberufung erstmals auch ohne ausgerufenen Spannungs- oder Konfliktfall möglich sein, wenn nicht genügend Freiwillige gefunden werden. Laut Entwurf soll das Bundeskabinett mit Zustimmung des Bundestags darüber entscheiden können, wenn es die sicherheitspolitische Lage erfordert.
Zudem sollen Wehrdienstleistende künftig als Soldaten auf Zeit verpflichtet werden – mit deutlich besserer Bezahlung. Laut Spiegel könnte der Nettoverdienst auf mehr als 2000 Euro steigen, was einer Steigerung von rund 80 Prozent gegenüber dem bisherigen Verdienst entspräche. Ob das ausreicht, um wie geplant zusätzlich Zehntausende junger Menschen mit einer Tötungsmaschine in der Hand in Uniform zu stecken? Wahrscheinlich nicht.
Berliner-zeitung